07.09.23
Die österreichische Gewerkschaft vida sieht die Liberalisierung des europäischen Eisenbahnmarktes als „gescheitert“ an. Man wirft den verantwortlichen Politikern vor, einen „Dumping-Wettbewerb“ organisiert zu haben, der vor allem auf Kosten der Beschäftigten im Schienensektor ginge. Auch den Fahrgästen habe es nicht viel gebracht: Fliegen sei billiger als Zugfahren, auch Privatbahnbetreiber erhöhten die Preise.
„Ich begrüße und verstehe gut die Bemühungen der ÖVP um ein einheitliches und transparentes europäisches Ticketsystem“, nimmt Gerhard Tauchner, Vorsitzender des Fachbereiches Eisenbahn in der Gewerkschaft vida, auf einen Kurier-Artikel von Ende August Bezug. „Viel Hoffnung sehe ich da allerdings nicht. Die Liberalisierungstreiber der ersten Stunde, ÖVP und EU-Kommission, haben sich selbst ein ‚faules Ei‘ gelegt. Denn die unterschiedlichen Ticketsysteme sind ein Auswuchs von Marktliberalisierung und Wettbewerb.“
Im deutschen Schienenverkehrsmarkt stünden mehr als 300 Personenverkehrsbetreiber im Wettbewerb. „Man stelle sich nur vor, die Politik will für 300 Gastronomiebetriebe im Wettbewerb eine einzige Speisekarte mit klarer Preisgestaltung schaffen. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit“, gibt der vida-Gewerkschafter zu bedenken. Arbeitsbedingungen und Einkommen habe sich in vielen EU-Ländern durch die Liberalisierung schon verschlechtert. „Nicht zuletzt deswegen kämpfen die durch den Wettbewerb und Ausschreibungen zum Sparen gezwungenen Bahnen längst auch mit massivem Personalmangel, Zugausfällen und Verspätungen. Die Beschäftigten leiden unter einer Überstundenflut“, kritisiert Tauchner.
„Eine zukunftsfähige Verkehrspolitik auf europäischer Ebene muss die Schiene gegenüber der Straße und der Luftfahrt weiter stärken! Das geht mit für alle Gesellschaftsschichten erschwinglichen Fahrkarten, besser und grenzüberschreitender Abdeckung und intelligent vernetzten Fahrplänen. Das ist aus sozialer Sicht unabdingbar und hilft uns, die Ziele eines nachhaltigen Mobilitätsmixes zu erreichen. Liberalisierung und Ausschreibungszwang bringen uns jedenfalls der Verbesserung und Transparenz des Angebots kein Stück näher“, plädiert Tauchner für die Direktvergabe anstelle von Ausschreibungszwang von Verkehrsleistungen im Schienenpersonenverkehr.
Diese ist nach europäischem Vergaberecht im Eisenbahnbereich immer dann möglich, wenn es nicht nach nationalem Recht untersagt ist. In Österreich ist das nicht der Fall, in Deutschland seit dem Abellio-Urteil schon. „In Österreich und in Europa werden über achtzig Prozent der Schienenpersonenkilometer über Direktvergabe organisiert und finanziert. Eine Änderung hin zu einer von der EU-Kommission angestrebten Ausschreibungspflicht wäre ein massiver Eingriff in die Stabilität des gut funktionierenden öffentlichen Verkehrs in Österreich. Das hätte zudem weitere gravierende negative Auswirkungen auf die Bahnbeschäftigten und deren Arbeitsbedingungen“, so Tauchner abschließend.
Stefan Hennigfeld
Redaktioneller Leiter
Zughalt e.V.
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Quelle: Zughalt.de