21.10.24
Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und die Allianz pro Schiene beklagen einen Reaktivierungsstau in Deutschland. Während die Liste aussichtsreicher Schienenstrecken immer länger wird, hakt es nach wie vor bei der Umsetzung von Reaktivierungsprojekten. Innerhalb von zwei Jahren wurden lediglich 21 Streckenkilometer wiederbelebt. Beide Verbände fordern, Planungsverfahren zu vereinfachen und Fördermittel aufzustocken. Alle zwei Jahre legen VDV und Allianz pro Schiene aktualisierte Vorschläge für Streckenreaktivierungen vor.
74 Strecken mit insgesamt 949 Kilometern sind neu auf der Vorschlagsliste hinzugekommen. „Es ist klar, mit Reaktivierungen allein werden wir die großen ökonomischen und verkehrlichen Herausforderungen in Deutschland nicht bewältigen – und doch warten wir inzwischen bei 325 Strecken mit 5426 Kilometern Länge auf die Umsetzung der Reaktivierung. Das könnte die Wirtschaft gerade auf regionaler Ebene erheblich stärken“, so VDV-Reaktivierungsfachmann Martin Henke, der bis zu seinem Ruhestand als Eisenbahngeschäftsführer im Verand tätig war.
Im gesamten Jahr 2024 werden voraussichtlich nur dreißig Kilometer Schienenwege reaktiviert. Dirk Flege, Geschäftsführer der Allianz pro Schiene: „Angesichts dieses Schneckentempos müssen Bund und Länder dringend mehr tun, um Initiativen vor Ort zu unterstützen. Die Menschen wollen eine Schienenanbindung. Gerade für den Schienengüterverkehr gibt es großes Potenzial.“ 379 Städte und Gemeinden ohne Zugang zum Schienenverkehr könnten durch die vorgeschlagenen Reaktivierungen wieder Anschluss an das Bahnnetz erhalten – allein in diesen Kommunen wohnen mehr als 3,8 Millionen Menschen – das entspricht der Einwohnerzahl von Berlin.“
Derzeit sind in Deutschland 123 der 900 Mittelzentren ohne Anschluss an die Eisenbahn, U-Bahn, Stadtbahn oder Straßenbahn, darunter 13 Kreisstädte. In 119 der nicht angeschlossenen Mittelzentren sind für die Eisenbahn gebaute, aber nicht mehr genutzte Trassen vorhanden. Für 72 dieser Mittelzentren schlagen VDV und Allianz pro Schiene eine Wiederanbindung an den Eisenbahnverkehr vor, bei 13 weiteren empfehlen sie eine vertiefte Prüfung. Allein in diesen Zentren leben über 1,4 Millionen Einwohner.
Dirk Flege: „Das Engagement der Menschen vor Ort ist unglaublich. Immer häufiger werden sogenannte Machbarkeitsstudien in Auftrag gegeben, die Grundlage für eine Entscheidung zur Reaktivierung sind. Bemerkenswert ist, dass mehr als drei Viertel der durchgeführten Machbarkeitsstudien zu einem positiven Ergebnis kommen. Das bedeutet: In den meisten Fällen wird die Reaktivierung als sinnvoll erachtet. Nun geht es darum, Planungsprozesse zu beschleunigen und nicht durch unnötige Bürokratie auszubremsen.“
„Das vergangene Jahr hat nicht nur einen deutlichen Zuwachs bei den Fahrgastzahlen gebracht, sondern auch in einem ganz anderen Bereich: Im GVFG (Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz) haben die Verkehrsunternehmen mehr Infrastrukturprojekte zur Förderung angemeldet als je zuvor“, so Martin Henke. Das Gesetz wurde im Jahr 2020 novelliert und in diesem Zuge finanziell aufgestockt. Dadurch ist inzwischen eine Verdreifachung der angemeldeten Projekte zu verzeichnen. Zuletzt waren im GVFG insgesamt 407 Projekte aus den Bereichen „Grunderneuerung“, „Reaktivierung“, „Elektrifizierung“ und „Bahnhöfe, Stationen, Haltestellen“ angemeldet.
Martin Henke: „Wir müssen sehen, dass der enorme finanzielle Bedarf bei der maroden Infrastruktur in Deutschland finanziell abgedeckt wird – alles andere schadet dem Wirtschaftsstandort Deutschland. Die Erhöhung der Fördermittel im GVFG auf drei Milliarden jährlich ab 2025 hätte eine extreme Hebelwirkung, um unsere Infrastrukturen noch schneller und konsequenter mit Blick auf die Erreichung der Klimaschutzziele im Verkehrssektor um- und ausbauen zu können.“
Bei der Reaktivierung von Bahnstrecken werden verschiedene Kriterien berücksichtigt. Zunächst spielen die Lage der Strecke und ihre Verbindung zu wichtigen Verkehrsachsen eine zentrale Rolle, wobei ein besonderer Fokus auf die Anbindung von Mittelzentren an Oberzentren gelegt wird. Die Attraktivität des zukünftigen Schienenverkehrs im Vergleich zum aktuellen Angebot, wie dem Busverkehr, ist ebenfalls entscheidend. Der Aufwand der Reaktivierung, sowohl finanziell als auch logistisch, sowie potenzielle Risiken, wie rechtliche Konflikte durch Entwidmung, müssen geprüft werden.
Stefan Hennigfeld
Redaktioneller Leiter
Zughalt e.V.
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Quelle: Zughalt.de